[zurück zur Suche]

 

Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 24.03.1992, 08:16 Uhr.

Die dts Nachrichtenagentur hält die umfangreichen Nutzungs- und Verwertungsrechte. Bei Fragen zu Sondernutzungsrechten oder Lizenzierung wenden Sie sich an unseren Vertrieb.

 

ADN1047 4 bl 533

Berlin/Wissenschaft/Soziologie/Jugend
Ostberliner Jugendliche sehen Vergangenheit differenzierter - Gemeinsames bei Bewertung rechter und rassistischer Positionen

Berlin (dts Nachrichtenagentur/ADN-bln). In der DDR aufgewachsene Jugendliche beurteilen den einst "real existierenden Sozialismus" wesentlich differenzierter als ihre Altersgefährten aus den alten Bundesländern. Dagegen gibt es bei der Bewertung rechtsextremer und rassistischer Positionen eher Gemeinsamkeiten. Das ergab eine Studie über die Einstellungen 16- bis 21jähriger aus West- und Ostberlin, die Dr. Detlef Oesterreich vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 1991 vornahm und deren Auswertung jetzt abgeschlossen ist. Einbezogen waren 786 Jugendliche aus dem Ost- und 610 aus dem Westteil der Stadt, die Mehrzahl jeweils Auszubildende in Bauberufen, etwa 40 bis 45 Prozent Gymnasiasten, insgesamt knapp ein Drittel Mädchen.

Nur 31,8 Prozent der befragten Ostjugendlichen, aber mehr als doppelt soviele aus dem Westen glauben, daß die Menschen in der DDR kaum Möglichkeiten hatten, selbst aktiv zu werden. 15,3 Prozent der Schüler/Ost, aber 29,6 Prozent der Schüler/West nannten das Leben in der DDR langweilig. Weit auseinander klaffen die Einschätzungen auch in anderen Fragen. So stimmten dem Satz "Die Menschen brauchten sich keine Sorgen um ihre Zukunft zu machen" gut 60 Prozent aus dem Osten, aber nur 34,5 Prozent aus dem Westen zu. Über 84 Prozent der Ost- und lediglich 47,6 Prozent der Westberliner meinen, daß die soziale Sicherheit in der Ex-DDR groß gewesen ist. Die Westberliner Jugendlichen pflichteten dem Satz "Die Menschen fühlten sich eingesperrt" mit 76,4 Prozent wesentlich stärker zu als ihre östlichen Altersgefährten (53 Prozent). Sie sind ebenso einheitlicher der Meinung (87,3 Prozent West und 67,1 Prozent Ost), daß in der DDR zuviel kontrolliert wurde. Dagegen glauben mehr Schüler aus dem Osten (59,4 Prozent/Ost zu 40 Prozent/West), in der DDR sei für Kinder und Jugendliche viel getan worden. 58,3 Prozent (Ost), aber nur 41 Prozent (West) meinen, die Menschen in der DDR hätten sich untereinander viel geholfen.

Die weitaus negativere Beurteilung der Lebensverhältnisse in der DDR durch die Westberliner Jugendlichen führt Dr. Oesterreich auf rezeptiv erworbene Klischees zurück. Nach der Wende hätten sich diese Vorstellungen durch die negative Beurteilung der DDR in den Medien noch verstärkt.

Die Ost-Jugendlichen beurteilen die erlebte Vergangenheit keineswegs nur positiv. Fast 80 Prozent meinen, daß Anpassung gefragt war. 66,7 Prozent sind überzeugt, die Menschen hätten anders gedacht als geredet, fast ebenso viele gehen von einer Bevormundung der Menschen im Sozialismus aus. Knapp 57 Prozent wollen wissen, daß den Politikern schon lange keiner mehr geglaubt hat.

Bei der Bewertung rechtsextremer und rassistischer Positionen verläuft der "Graben" nicht zwischen Ost und West, sondern deutlich zwischen Berufsschülern und Gymnasiasten. Letztere vertreten in beiden Stadtteilen Berlins wesentlich liberalere Standpunkte. So fordern rund 35 (West) bis 43 (Ost) Prozent der Berufsschüler, Ausländer sollten so schnell wie möglich Deutschland verlassen. Dem stimmen nur 5,6 (West) bis 9,2 Prozent (Ost) der Gymnasiasten zu. 27,6 (Ost) bis 35,7 Prozent der Berufsschüler, aber nur 8,2 (Ost) bis 13 (West) Prozent der Gymnasiasten plädieren für die "Einführung der Todesstrafe für die Verbrecher des SED-Regimes". 32 (Ost) bis 46 (West) Prozent der befragten Lehrlinge sind für ein Verbot der PDS. Von den Gymnasiasten halten dies nur 12,6 (Ost) bis 26,4 (West) Prozent für richtig. 17,6 (Ost) und 16,3 (West) der Berufsschüler meinen, die Nationalsozialisten seien vernünftige Leute gewesen, Hitler hätte nur den Krieg nicht anfangen dürfen. Dem stimmt von den Gymnasiasten nur ein verschwindend geringer Teil (ca. 3 Prozent) zu. In Ost und West wesentlich besser als die Berufsschüler bewerten die Gymnasiasten Angehörige anderer Nationalitäten. Juden werden von 43 (West) bis 60 (Ost) Prozent der Gymnasiasten, aber nur 18 bis 19 Prozent der Auszubildenden als gut/sehr gut eingestuft. Auch Türken, Zigeuner, Araber, Polen und Russen kommen bei den oberen Schülern erheblich besser weg. Seitens der Gymnasiasten erhalten dabei Polen und Russen im Osten wesentlich mehr Zustimmung als im Westen (41 zu 20 bzw. 55 zu 32 Prozent). (Auch Basisdienst)

240716 Mar 1992