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Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 06.09.1992, 13:13 Uhr.

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Finanzen/Ostdeutschland
(Wochenend-Zusammenfassung mit neuem Material) Koalition über Finanzkonzept zum Aufbau im Osten zerstritten

- Brüderle warnt vor "Spiel mit dem Feuer" - SPD-Politiker fordert Neuwahlen

Berlin (dts Nachrichtenagentur/ADN). Die Parteien der Bonner Regierungskoalition sind zwei Tage vor Beginn der Haushaltsdebatte 1993 über das Konzept zur Finanzierung des wirtschaftlichen Aufbaus in Ostdeutschland zerstritten, Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU), der den Etat am Dienstag im Parlament einbringen will, sieht allerdings keinen Anlaß für einen Streit und mahnte zu "mehr Ruhe und Gelassenheit".

Gegenüber der "Welt am Sonntag" schloß Waigel Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheit nicht grundsätzlich aus. Bisher seien die Probleme durch Sparmaßnahmen, Umschichtungen und mit einer vertretbaren Neuverschuldung gut gelöst worden, keiner wisse jedoch, wie die Situation in zwei oder drei Jahren ist, sagte der CSU-Vorsitzende. Die vom CDU-Vorstand im Rahmen eines Solidarpakts vorgeschlagenen Modelle eines Investivlohns und einer Investitionsanleihe werde er eingehend prüfen. Vorrangig müsse es aber um den Lohn- und Einkommenszuwachs in den nächsten Jahren und insbesondere auch um die Begrenzung der Ausgabensteigerung der öffentlichen Hand gehen. Über das CDU-Modell und die von ihm vorgeschlagene steuerbegünstigte Deutschland-Anleihe müsse miteinander geredet werden.

Für die Finanzierung der deutschen Einheit sind Waigel zufolge im Bundeshaushalt 1993 rund 92 Milliarden Mark vorgesehen, sechs Milliarden mehr als 1992 zur Verfügung stehen.

CSU-Landesgruppenchef Wolfgang Bötsch hatte nach einer Klausurtagung verlangt, die Meinungsverschiedenheiten über eine Investitionsanleihe noch vor Beginn der Haushaltsberatungen zu beenden. Man müsse bis dahin zu einem "geschlossenen Bild" kommen. Die CSU halte von einer Zwangsanleihe "sehr, sehr wenig".

Scharfe Kritik an der Finanzierungs-Diskussion übte der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff. In einem ADN-Gespräch äußerte er Verständnis dafür, daß die deutschen Unternehmer über das derzeitige Erscheinungsbild der Bundesregierung nicht glücklich seien. Der Ausweg könne nur sein zu regieren und zu entscheiden - "und nicht soviel rumzuschwafeln", betonte Lambsdorff und warnte davor, die Wirtschaft mit weiteren Steuern und Abgaben zu belasten. Man befinde sich ohnehin nicht weit vom Rande einer Rezession. Investitionsanleihen würden nicht nur den wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch Arbeitsplätze gefährden.

Der rheinland-pfälzische Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) warnte die CDU davor, "die Zwangsanleihe mit den Stimmen der SPD durchzupeitschen". Dann "ist die Koalition beendet", sagte er der "Bild"-Zeitung (Montagausgabe): "Die Union muß wissen: das Spielchen mit wechselnden Mehrheiten ist ein Spiel mit dem Feuer." Für einen "eisernen Sparkurs" müßten "alle Ausgaben, auch im sozialen Bereich, alle Subventionen" noch einmal auf den Prüfstand.

Der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Friedhelm Farthmann, hat Bundeskanzler Helmut Kohl inzwischen zum Rücktritt aufgefordert. "Trotz der Stimmenmehrheit der Koalition im Bundestag beherrscht diese Regierung ihr Handwerk nicht", sagte er der "Bild"-Zeitung. "Es ist ein Maß an Unregierbarkeit wie in einem Tollhaus erreicht. Statt sich weiterdurchzuwurschteln sollten CDU, CSU und FDP ihren Regierungsauftrag an den Wähler zurückgehen". muc/mwo

061113 Sep 1992