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Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 31.10.1992, 17:33 Uhr.

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Reformationstag/Wittenberg
(Tageszusammenfassung) Weizsäcker ruft Deutsche zu Solidarität und Gewaltlosigkeit auf - Reformationsfeier in Wittenberg

Wittenberg (dts Nachrichtenagentur/ADN). Bundespräsident Richard von Weiszäcker hat am Reformationstag die Deutschen zu Solidarität und Gewaltlosigkeit in der politischen Auseinandersetzung aufgefordert. In einer Ansprache anläßlich der Feierlichkeiten zum 100. Jubiläum des Wiederaufbaus der Schloßkirche Wittenberg und des 475. Jahrestages des Lutherschen Thesenanschlags betonte das Staatsoberhaupt in Wittenberg: "Wir haben in Ost und West ein Schicksal, nicht zwei." Die Deutschen dürften nach dem Gewinn der staatlichen Einheit nicht neue Grenzen entstehen lassen. Martin Luther habe mit dem Anschlag seiner Thesen die Kirche erneuern wollen und doch die Spaltung bewirkt, sagte der Bundespräsident und fügte hinzu: "Wenn wir heute am Reformationstag zusammen sind, dann feiert niemand die Spaltung, unter der wir doch alle leiden."

Weizsäcker verurteilte scharf die Ausschreitungen gegen Ausländer. Interessengegensätze und Streit werde es unter den Menschen immer geben, in einer freien Gesellschaft werde jedoch kein einziges Problem durch Gewalt gelöst. Die Würde des Menschen sei unantastbar, unabhängig von Kultur und Glauben, Hautfarbe und Paß.

Der Magdeburger Bischof Christoph Demke sagte in seiner Predigt, wir sehnen uns nach Reformation und Erneuerung in einer Zeit, in der vieles nach Restauration und Etablierung alter Strukturen aussehe. "Welcher Teufel hat uns eigentlich geritten, das Geschenk der deutschen Einheit so zu vertun?". Er kritisierte "falschen Selbstruhm und falsche Nörgelei".

Auf einem Gesprächsforum "Kirche und Staat - Staat und Kirche" am Nachmittag verteidigte Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) die Handlungen der evangelischen Kirche zur Stabilisierung der früheren DDR. Er bezeichnete die Kontakte der Kirche mit der SED-Führung als "Kampfinstrument beider Seiten". Während die Partei die Taktik verfolgte, die Kirche zu isolieren, wollten die Kirchenmänner die Kontakte nutzen, um Bevormundung zu vermeiden und Eigenständigkeit zu erringen, sagte Stolpe. "DDR war für mich die unmittelbare Realität, jeden Tag zu versuchen, mehr Luft zum Atmen zu bekommen und Verhältnisse zu schaffen, in denen man leben kann."

Die Kirche habe nicht das Recht politischer Mitentscheidung, müsse aber politisch mitreden, beschrieb der Ministerpräsident heutige Aufgaben. In der - auch politischen - Orientierungslosgkeit vieler Menschen könne die Kirche helfen, wieder Richtung zu finden.

Die Kirchen hätten außerdem die Pflicht "gesellschaftlicher Seelsorge", sagte Stolpe. Sie seien die einzigen aktiv tätigen Gemeinschaften mit Tradition, Personal, Gebäuden und Erfahrung, die mit der alten DDR nicht untergegangen sind. An sie richten sich nach Darstellung Stolpes "eher zuviel Erwartungen, Hoffnungen und Angebote". Das könne über die Kräfte der Kirchen gehen, warnte er. Die Kirchen müßten selbst klären, was sie in der ostdeutschen Gesellschaft leisten wollen, können und wo sie sich versagen müssen.

Walter Jens, Theologieprofessor aus Tübingen, stellte fest, daß in den Kirchen West- und Ostdeutschlands "völlig andere Zeitrechnungen" existierten. In den alten Bundesländern habe es sich ausgezahlt, Christ zu sein. Die Vorteile spiegelten sich beispielsweise in beruflichen Karrieren wieder. (Auch Landesdienst)

lsa/dfu/mkl

311633 Oct 1992