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Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 03.01.1992, 13:10 Uhr.

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Rußland/Preisfreigabe/Stimmung
Staatshandel war auf Preisfreigabe in Rußland unvorbereitet

--von ADN-Korrespondent Rolf Schablinski--

Moskau (dts Nachrichtenagentur/ADN). Was in Moskau am ersten Tag der Preisfreigabe in den Lebensmittelgeschäften noch Vermutung war, wurde in den Läden für Industriewaren am Freitag zur Gewißheit: der Staatshandel hat die ganze Aktion mit traditioneller Gleichgültigkeit hingenommen und so gut wie nichts vorbereitet. Entweder hing das selbstgemalte Schild "Inventur" schon an der verschlossenen Eingangstür oder zierte Regale und Verkaufstische in den Geschäften. Barsche und schläfrige Verkäufer betrachteten die interessierte Kundschaft wie schon früher lediglich als Störenfriede.

Viele Moskauer hatten sich am Freitag aufgemacht, um die neue Preissituation zu erkunden. "Wozu eigentlich das Ganze," meint Iwan Frolow im sogenannten Herrenausstatter am Prospekt Mira. "Dieser Mantel kostete ja schon vor Monaten 200 Rubel. Jetzt hängt der Ladenhüter immer noch da, ist aber mit 1.130 Rubeln ausgezeichnet".

Die leeren Regale und die unverkäuflichen Altklamotten sind die große Enttäuschung der Menschen. Wen auch immer man fragt - so hatte man sich die Preisfreigabe nicht vorgestellt. "Nichts ist angeliefert worden, was gefragt ist", meinte die Buchhalterin eines Modesalons, Tatjana Kondratjewa. Immer sei erzählt worden, daß die Preisfreigabe von einer "Waren-Intervention" begleitet sein würde. In den Lagern solle ja auch angeblich Einiges liegen. Aber gekommen seien nur Anordnungen vom Wirtschaftsministerium für eine neue Inventur und sich widersprechende Verteilungsanweisungen.

Aus Unterhaltungen der Menschen auf der Straße und in Verkehrsmitteln ist Sorge über die Ungewißheit herauszuhören, was nun mit den Tarifen für Wasser und Gas sowie Strom und Telefon wird. Keine Behörde hat sich bisher verbindlich geäußert. Die Metro kostet in Moskau noch 15 Kopeken pro Fahrt. Auch über die künftige Beteiligung an Arztkosten wird gemunkelt.

Wer dringend etwas für den täglichen Bedarf benötigt, ist nach wie vor auf die sogenannten kommerziellen Geschäfte angewiesen, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Dort sind beispielsweise ein Paar Strumpfhosen zwischen 150 und 250 Rubel - eventuell - erhältlich.

031210 Jan 1992