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Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 09.06.1992, 13:43 Uhr.

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Brandenburg/Verfassung/Volksentscheid
Brandenburg: Rätselraten über Beteiligung am Volksentscheid - Verfassung gilt als gegenwärtig modernste in Deutschland

--von ADN-Korrespondent Igor Göldner--

Potsdam (dts Nachrichtenagentur/ADN). Die Bürger des Landes Brandenburg werden sich am kommenden Sonntag eine eigene Verfassung geben. Das scheint zumindest in den Lagern der Potsdamer Parteien klar zu sein, da lediglich die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich ist. Gerätselt wird vielmehr, wie hoch die Beteiligung beim ersten Volksentscheid in den neuen Ländern sein wird. Davon könnte, so wird vermutet, das künftige Agieren einzelner Politiker abhängen.

Der angeschlagene Regierungschef Manfred Stolpe (SPD) - der nach ihm benannte Untersuchungsausschuß zur Aufklärung seiner früheren Stasi-Kontakte wird frühestens gegen Jahresende fertig - gibt zu: "Ein eindeutiges Ja würde mich in meinem Wirken bestärken." Sein Pendant von der CDU-Opposition, Ulf Fink aus Westberlin, erklärter Gegner der Konstitution, stellte klar, er werde sich von Abstimmungsmehrheiten in seiner Politik nicht beeinflussen lassen. Aber schon am Abend des 14. Juni, sollte die Verfassung angenommen werden, wollen ihn einige seiner Parteikollegen für das "CDU-Desaster" verantwortlich machen. Neben Widersacher Peter-Michael Diestel ("Der 14. Juni - Der Tag der Umkehr") wird vor allem die Ex-Geschäftsführerin der Fraktion, Beate Blechinger, den Rücktritt Finks fordern.

Selbst CDU-Mitglieder können der Fink-Aussage, die Verfassung sei "in mindestens zehn Punkten grundgesetzwidrig" nicht mehr folgen. Von den "zahlreichen Verfassungsexperten" (Fink), die als Zeugen der Ablehnung herhalten sollten, blieb am Ende nur der CDU-Bundestagsabgeordnete Rupert Scholz übrig. Auch der Präsident des Berliner Verfassungsgerichts, Klaus Finkelnburg (CDU), erklärte jüngst, als Brandenburger würde er dem Text zustimmen.

Nach 18 Monaten Diskussion hatten sich die Fraktionen Anfang April zunächst im Verfassungsausschuß und dann in dritter Lesung im Landtag auf einen Verfassungstext geeinigt, den Experten zu den modernsten in Deutschland zählen. Weitreichende Staatsziele und Grundrechte wie das Recht auf Bildung, Arbeit und Wohnen sind darin ebenso vorgesehen wie eine Volksgesetzgebung, bei der 20.000 Unterschriften für eine Volksinitiative und 150.000 für die Auflösung des Landtages ausreichen. Befürworter sehen die Aufbruchstimmung vom Herbst 1989 mit 40 Jahren Grundgesetzerfahrung vereint. Der zunächst im Mai 1991 von einer Verfassungskommission aus 15 Parlamentariern und 15 Verfassungsexperten vorgelegte Text ging noch weiter. Er enthielt unter anderem ein Widerstandsrecht, den gänzlichen Verzicht auf Sperrklauseln bei Wahlen oder maximal drei Prozent sowie das Verbot des Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel beim Verfassungsschutz. Bonner Politiker sahen den Entwurf, der maßgeblich vom Bündnis 90 geprägt war, als "einen Weg in die andere Republik" (Rainer Barzel) und als "Generalangriff auf das Grundgesetz".

Bislang haben die Umfragen zur Akzeptanz der Verfassung in der Bevölkerung zum Teil widersprüchliche Ergebnisse gebracht. Sie reichen von einer eher verhaltenen Beteiligung um die 50 Prozent bis zu 70 bis 80 Prozent. Die "Potsdamer Neuesten Nachrichten" ermittelten kurz vor Pfingsten in einer "Straßenumfrage" 78,5 Prozent Beteiligung und ein klares Votum für den Verfassungsentwurf. Mit großem Aufwand schaltete der Landtag eine Verfassungskampagne mit Info-Mobilen und herumreisenden Politikern. Seit zwei Wochen finden bis an die zehn Veranstaltungen täglich im Land statt. Kostenpunkt der Aktion: 3,3 Millionen Mark aus dem Landessäckel. (Auch Landesdienst)

091143 Jun 1992