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Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 09.10.1992, 14:44 Uhr.

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Brandt/Tod
(Zusammenfassung mit neuem Material) Willy Brandt 78jährig verstorben - Altbundeskanzler im In- und Ausland als vorbildlichen Demokraten gewürdigt - Schweigeminute im Bundestag - Am 17. Oktober Staatsakt im Berliner Reichstag

Berlin (dts Nachrichtenagentur/ADN). Führende Persönlichkeiten im In- und Ausland haben am Freitag mit tiefer Trauer die Nachricht vom Tod Willy Brandts aufgenommen. Politiker aller im Bundestag vertretenen Parteien, Gewerkschaften und Kirchen bezeichneten Brandt als vorbildlichen Demokraten. Vor allem wurden seine Verdienste als Vater der Ost- und Entspannungspolitik hervorgehoben, die schließlich zur Einheit Deutschlands führten. Auch frühere Staatsmänner Osteuropas würdigten die Dialog- und Friedensbereitschaft Brandts.

Der 78jährige Altbundeskanzler und SPD-Ehrenvorsitzende war am Donnerstag abend in Unkel bei Bonn nach langer Krankheit an Darmkrebs gestorben. Die Bundesrepublik wird am 17. Oktober mit einem Staatsakt im Berliner Reichstag von dem großen Politiker Abschied nehmen. Beerdigt werden soll Brandt auf Wunsch der Familie auf dem Waldfriedhof Zehlendorf.

Der Bundestag gedachte am Freitag morgen mit einer Schweigeminute dem Abgeordneten Brandt. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) würdigte ihn als großen Staatsmann und "eine der bedeutendsten historischen Gestalten der Nachkriegsgeschichte Deutschlands". Brandt sei ein "Anwalt des Friedens und der Verständigung" gewesen, sagte Frau Süssmuth vor dem Parlament.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker schrieb in einem Beileidsschreiben an Brandts Witwe, ihr Mann sei ein "großgesinnter Mensch" gewesen. Er habe "mit seiner Humanität, seiner visionären Kraft und seinem sicheren Intinkt um den Frieden in Deutschland, um Verständigung mit den ehemaligen Gegnern und um die Wiederherstellung des deutschen Namens" gerungen. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) würdigte den Verstorbenen als "herausragende Persönlichkeit". Brandt habe "wie nur wenige zum Ansehen unseres Vaterlandes in der Welt beigetragen", erklärte Kohl in Bonn.

Der SPD-Vorsitzende Björn Engholm nannte Brandt den bedeutendsten Vorsitzenden der Partei seit August Bebel. "Wir danken einem Mann, der vielen Menschen in Europa und darüber hinaus Orientierung und Hoffnung gegeben hat." Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) sagte im RTL-Frühmagazin, Brandt habe zusammen mit Walter Scheel (FDP) "den Weg geöffnet für die Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn, für die deutsche Vertragspolitik". Eben diese Politik sei schließlich die Grundlage gewesen für die deutsche Einheit.

Als Regierender Bürgermeister vor und nach dem Bau der Mauer habe Brandt Berlin durch eine stürmische Zeit geführt, erklärte der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU). Brandts Satz über die Ereignisse des November 1989 - "Jetzt wächst wieder zusammen, was zusammengehört" - habe Geschichte gemacht.

Auch der ehemalige sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow hat sich bewegt über den Tod des SPD-Ehrenvorsitzenden geäußert. "Deutschland, Europa und die ganze Welt haben einen herausragenden Staatsmann und Politiker der Gegenwart verloren", sagte Gorbatschow dem ADN in Moskau.

In Bonn und Berlin sowie weiteren deutschen Städten sind nach dem Tod Brandts die Fahnen an öffentlichen Gebäuden auf Halbmast gesetzt worden. In Rathäusern wurden Kondolenzbücher ausgelegt. An Brandts früherer Berliner Wirkungsstätte als Regierender Bürgermeister riefen Diepgen und die SPD für den Abend zu einem Schweigemarsch vom Schöneberger Rathaus zum Brandenburger Tor auf.

Als Bonner Regierungschef leitete Brandt 1969 die Ostpolitik ein, die das Gewaltverzichtsabkommen mit der Sowjetunion (1970) und den Grundlagenvertrag mit der DDR (1972) ermöglichte. Für den mit den Ostverträgen erzielten Durchbruch in der Entspannungspolitik erhielt Brandt 1971 den Friedensnobelpreis. 1974 trat er als Bundeskanzler zurück, nachdem sein Berater Günther Guillaume als Stasi-Spion enttarnt worden war und zudem Gerüchte über Verfehlungen im Privatleben des Politikers kursierten.

wsd/kwi

091344 Oct 1992