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Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 23.04.1993, 15:26 Uhr.

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ußland/Machtkampf/Jelzin
(Zusammenfassung mit neuem Material) Jelzin will bei Referendumserfolg Verfassung außer Kraft setzen

- Neuer Grundgesetzentwurf veröffentlicht - Sorkin warnt vor Präsidialmacht

Moskau (dts Nachrichtenagentur/ADN). Der russische Präsident Boris Jelzin will im Falle eines Sieges bei dem Referendum am kommenden Sonntag die Verfassung außer Kraft setzen und die Tätigkeit des Verfassungsgerichtes aussetzen. Entsprechende Dekrete, die schon am Tag nach dem Plebiszit veröffentlicht werden könnten, seien vorbereitet, erfuhr ADN am Freitag aus der Umgebung des Staatchefs. Per Erlaß wolle Jelzin das Amt des Vizepräsidenten abschaffen, hieß es im Kreml weiter. Der Staatschef plane außerdem, eine sogenannte Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Diese soll ein neues Grundgesetz beschließen, das Datum für Neuwahlen des Parlaments festsetzen und eventuell über Neuwahlen des Präsidenten entscheiden.

Der Pressedienst des Präsidenten verbreitete am selben Tag Auszüge aus dem Entwurf eines neuen Grundgesetzes, das auf Initiative Jelzins ausgearbeitet worden war. Er sieht die Stärkung der Präsidialmacht und die Abschaffung des bislang von Altkommunisten beherrschten Volksdeputiertenkongresses vor. Oberstes Organ wird danach die Föderative Versammlung, ein aus dem Föderationsrat und der Staatlichen Duma bestehendes Zwei-Kammern-Parlament, sein. Staatsoberhaupt ist der Präsident. Auf seinen Vorschlag hin werden der Premierminister, der Zentralbankchef und die Verfassungsrichter ernannt. Die drei Gerichtshöfe - Verfassungsgericht, Oberster Gerichtshof und Schiedsgericht- sollen erhalten bleiben.

Verankert sind in dem Entwurf des Grundgesetzes auch Bürgerrechte wie das Recht auf Eigentum oder auf politischen Zusammenschluß. Jelzin hatte den neuen Entwurf ausarbeiten lassen, nachdem der Volksdeputiertenkongreß die Abstimmung über einen bereits vorliegenden Entwurf abgelehnt hatte, die nach Jelzins Vorstellung beim Referendum am 25. April erfolgen sollte.

Linke Gruppen wollten am Freitag abend im Zentrum Moskaus "gegen Preiswillkür und die sozial-ökonomische Politik der Regierung" protestieren. Ebenfalls für Freitag abend war eine Fernsehansprache Jelzins geplant. Der Präsident hatte schon am Vortag angekündigt, nach dem Referendum "harte und entschlossene Maßnahmen" zu ergreifen.

Der Präsident des Verfassungsgerichtes, Valeri Sorkin, warnte unterdessen vor der Einführung der direkten Präsidialmacht. Dies würde zu einer Tragödie und zum Zerfall Rußlands führen, sagte er am Freitag. Ein Bürgerkrieg müsse verhindert werden. Der Präsidentenapparat sei bei aller Macht nicht in der Lage, das riesige Land allein zu führen. Einen Ausweg sehe er nur in vorgezogenen Wahlen.

Das russische Außenministerium teilte am Freitag, daß zum Referendum rund 50 ausländische nichtstaatliche Organisationen die Entsendung von Beobachtern angekündigt haben. Ein Teil von ihnen sei bereits in Rußland eingetroffen.

ffj/tba

231326 Apr 1993