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Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 10.09.1993, 19:55 Uhr.

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ADN0115 4 pl 509

Presse/Nahost
"Die Tageszeitung" (Berlin)

"vom ende des ghettos kein jubel, keinen spontanen beifall, kein erleichtertes auflachen gab es gestern in jerusalem, als der israelische ministerpraesident jitzhak rabin seine unterschrift unter das dokument setzte, mit dem sich die regierung des juedischen staates und die palaestinensische befreiungsorganisation plo gegenseitig anerkannnten. stattdessen: totenstille, ernste minen, nicht nur auf dem podium, sondern auch im saal unter den anwesenden gaesten und journalisten. 'es ist nur ein anfang, aber ein anfang von immenser bedeutung' kommentierte aussenminister shimon peres das geschehen, so, als ob schon ein zuviel an emphase den zerbrechlichen versuch, zwei voelker miteinander auszusoehnen, bedrohen koennte. ueberraschend ist diese verhaltenheit nur auf den ersten blick. historische einschnitte bringen risiken mit sich, und dessen sind sich beide seiten nur zu bewusst. der nahe osten war ueber jahrzehnte hinweg gepraegt von tod, zerstoerung, leid und hass - vom kampf um die eigene existenz, das ueberleben, auf der einen seite, und von der auflehnung gegen tief empfundenes unrecht, schmach und verletztung der wuerde auf der anderen. aus juedischer sicht beschrieb elie wiesel in seinem roman der bettler von jerusalem, der zur zeit des juni-krieges von 1967 spielt, mit den worten: 'fuer israel ging es nicht um ehre und demuetigung, sondern um leben und tod.' und, knapp auf den punkt gebracht: 'israel ist das ghetto'. seit seiner gruendung im jahre 1948 hat sich der juedische staat im grunde immer als ghetto, als fremd- koerper in der region emfpunden, der von millionen von arabern bedroht wurde - umgekehrt wurde er von aussen auch als solcher wahrgenommen. mit dieser wahrnehmung von sich und den anderen, zu denen auch liebgewordene feindbilder und mythen gehoeren, sind generationen junger menschen auf beiden seiten aufgewachsen und haben, oft genug, ihr leben dafuer gelassen. lange genug wurde durch diese fremd- und selbstwahrnehmung der einstieg in eine realistische politik der veraenderung blockiert. insofern handelt es sich bei der gegenseitigen Anerkennung zwischen Israel und der PLO nicht um irgendeinen, zwar wichtigen Schritt auf der Ebene der offiziellen Diplomatie, sondern um einen tiefen einschnitt, der das leben jeder familie, jedes einzelnen beruehrt. kein wunder, dass die neue politik und das neue denken in westjerusalem und tunis auf beiden seiten, in beiden gesellschaften, so sehr umstritten ist. wenn der frieden jenseits der noch voellig offenen frage einer endgueltigen politischen loesung eine chance hat, dann nur, wenn ein prozess eingeleitet werden kann, der letztlich den abschied vom bild des ghettos und des fremdkoerpers einschliesst. es war wiederum shimon peres, der dies umriss, als er von einer historischen bedeutung fuer die beziehungen 'zwischen der juedischen und der arabischen welt' sprach. die oeffnung der grenzen, die moeglichkeit, zu reisen, handel zu treiben, ja, ueberhaupt erst einmal strassen zu bauen, die tel aviv, haifa, und jerusalem mit kairo, beirut, damaskus und amman verbinden, all dies sind voraussetzungen dafuer, dass die menschen in der region nach jahrzehnten des kriegszustandes miteinander in kontakt treten, ihre unterschiedlichen kulturen kennen- und schaetzen lernen koennen. der ehemalige aegyptische praesident anwar el-sadat hat einmal gesagt, dass es ein schoener, aber unrealistischer traum sei, sich vorzustellen, dass golda meir zum einkaufen nach kairo faehrt. dies ist die richtung, in der heute gedacht werden muss. es gibt viele gruende, warum das camp-david-ab- kommen von 1979, das sadat das leben kostete, nur ein separatfrieden zwischen aegypten und israel blieb und den weg in diese richtung nicht eroeffnete. dazu zaehlt die weigerung der damaligen israelischen regierung, ueber einen rueckzug aus den besetzten gebieten zu verhandeln, ebenso wie die politik der us- administration, die sich mit der unterzeichung des abkommens zufrieden gab und nicht den langen atem hatte, der notwendig gewesen waere, um den separatfrieden in einen regionalen friedensprozess zu verwandeln."

adn

101755 Sep 1993