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Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 04.11.1994, 20:38 Uhr.

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ddp/ADN0189 4 pl 465

Presse 30/Kirche
"Der Tagesspiegel" (Berlin)

"viele menschen kehren der kirche den ruecken. und die, die das nicht tun, verbinden mit ihr oft nicht mehr als eine tradition. sie wollen die taufe und die konfirmation, die kirchliche trauung und die beerdigung. die inhalte aber suchen sie woanders. die kirche weiss das, sie hat die zahlen, die das belegen, selbst erhoben. im naechsten jahr, wenn der solidaritaetszuschlag wieder eingefuehrt wird, ist mit einer abermaligen austrittswelle zu rechnen. doch statt sich diesen problemen zuzuwenden, kehrt sich die kirche nach innen. wie im letzten jahr wird auch in diesem jahr nicht der mensch, sondern die kirche im mittelpunkt der ekd-synode stehen, die an diesem sonntag in halle beginnt. die abstimmung ueber die zukunft des militaerseelsorgevertrages steht an. bereits 1993 war die seelsorge an soldaten das beherrschende thema der synode. die kirchenparlamentarier vertagten die entscheidung jedoch auf diesen herbst. die evangelische kirche tut sich schwer mit diesem thema. und sie zeigt sich paradox: einerseits soll alles so bleiben wie es ist, die arbeit der seelsorger sich nicht aendern, der staat auch in zukunft die kosten tragen. andererseits sollen die pfarrer nicht laenger im dienste des bundes stehen, nicht laenger staatsbeamte sein. die kirche muss wissen, dass das auch schiefgehen kann. der bund koennte sich aus seiner finanziellen verantwortung zurueckziehen, die arbeit der seelsorger in gefahr geraten. die probleme in der oekumene sind programmiert, die katholische kirche fuerchtet schon jetzt um ihre verhandlungsposition gegenueber dem staat, wenn die ekd die gemeinsame basis verlaesst. wer den konflikt jedoch nur belaechelt oder der laune einiger 'ideologisch motivierter' protestanten zuschreibt, tut der kirche unrecht. denn hinter der auseinandersetzung um die militaerseelsorge verbirgt sich ein erbittertes, oft verbittertes ringen um den eigenen standort und um das verhaeltnis zum staat. der konflikt ist alt, gewiss, doch durch die vereinigung hat er neuen zuendstoff erhalten. vor allem die landeskirchen im osten lehnen den militaerseelsorgevertrag ab. aus dem beamtenstatus der pfarrer wird eine zu grosse staatsnaehe abgeleitet. vielen von ihnen ist der staat aber noch immer suspekt. wer wollte ihnen das verdenken? wer wollte ein urteil ueber jene faellen, denen der 'berechenbare' gegner staat von damals manchmal noch immer lieber waere als der 'unberechenbar' erscheinende partner staat heute? wer in einem land aufgewachsen ist, das nicht erst seit 1949, sondern seit 1933 kein demokratisches mehr war, dem muss man zeit lassen, sich an die neuen gegebenheiten zu gewoehnen. so ist denn auch das ringen um die militaerseelsorge vor allem ein ringen um die einheit ein kampf, der nicht zuletzt deshalb so erbittert gefuehrt wird, weil die kirche im osten in den augen mancher bereits zweimal verloren hat: durch die uebernahme des kirchensteuersystems und die einfuehrung des religionsunterrichts an schulen. das bemuehen um die einheit ist wichtig, es darf jedoch kein selbstzweck sein. die beschaeftigung mit sich bindet zu viele kraefte, der staendige blick nach innen droht den blick nach aussen zu verstellen. das ist eine schwaeche der kirche einer kirche, die wie keine andere institution aufgerufen ist, den immer ratloser werdenden menschen antworten zu geben, einer kirche, die wie keine andere einrichtung den immer einsamer werdenden menschen heimat bieten muss, einer kirche, die nach wie vor ihren platz in der gesellschaft hat, den sie nur nicht nutzt, einer kirche, die ueberdies aufpassen muss, dass ihr nicht frueher oder spaeter die gesamte basis davonlaeuft. noch hoffen viele menschen auf die kirche. aber niemand weiss, wie lange das so bleibt."

ddp/ADN

041938 Nov 1994