[zurück zur Suche]

 

Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 11.07.1992, 11:59 Uhr.

Die dts Nachrichtenagentur hält die umfangreichen Nutzungs- und Verwertungsrechte. Bei Fragen zu Sondernutzungsrechten oder Lizenzierung wenden Sie sich an unseren Vertrieb.

 

ADN8002 4 pl 388

lsc/pl/Kommune/Bürgermeister/Leipzig
(ausführlich ADN8031 pl 09:18) "Schade, daß Sie nicht mehr Einfluß haben..." - Leipzigs OB Lehmann-Grube mit Vorschlägen für die Bundespolitik

--von ADN-Korrespondent Claus Stäcker--

Leipzig (dts Nachrichtenagentur/ADN-lsc). Ausgerechnet in Leipzig, unter lauter ostdeutschen Laien-Parlamentariern, hat der Ex-Hannoveraner Hinrich Lehmann-Grube (SPD) eine neue, ihn offensichtlich tief beeindruckende Demokratie-Erfahrung gemacht. Wann immer der Wahl-Sachse heute als Oberbürgermeister der Messestadt Westbesuch empfängt, gerät er über seine Ost-Kollegen ins Schwärmen: Von "sachdienlichen Debatten" ist da die Rede und "fraktionsübergreifenden Auseinandersetzungen", bei denen man sich "rauft" und "zusammendiskutiert".

So entließ der 59jährige nach der letzten schwierigen Geburt vor der Sommerpause, der Verabschiedung des 92er Haushaltsplanes, die Stadtverordneten denn auch mit einem dicken Lob in die Ferien: Er sei stolz, daß "seine" Abgeordneten sich nicht, wie viele Bundespolitiker, der Verantwortung verweigern. Zuvor hatten immerhin 78 von 102 Anwesenden nach wochenlangen, zum Teil haarigen Debatten, dem Entwurf ihre Stimmen gegeben.

Am liebsten würde der seit nunmehr zwei Jahren im Osten lebende Politiker das "Leipzig-Modell" gleich auf den Bundestag übertragen. Schon auf dem kommunalpolitischen Kongreß der Grünen vor wenigen Wochen hatte sich der OB als Gastgeber zu einer Lektion in Sachen Bundes-Parlamentarismus hinreißen lassen. In den West-Parteien herrscht altes Denken in Kategorien der 70er und 80er Jahre vor, das Problemlösungen verhindert, ereiferte er sich. Ihm jedenfalls sei klar, meinte Lehmann-Grube, daß sich konträre Seiten in der Sache gegenseitig befruchten können. Er habe es zum Beispiel nie als Schande empfunden, wenn in der Stadtverordnetenversammlung ein gut durchdachter PDS-Vorschlag durchging. "Diese alten Denkmuster zu durchbrechen, könnte die Leistung der Kommunalpolitik sein", spekulierte der Sozialdemokrat und erntete von den Grünen herzlichen Beifall.

Dabei hatte er in der jetzt zu Ende gegangenen ersten Halbzeit seiner Legislaturperiode durchaus auch unliebsame Begegnungen mit dem Abstimmungsverhalten der "Ossis". Als beispielsweise nach der Erhöhung der Straßenbahnpreise ein PDS-Antrag durchkam, der eine einmalige Ausgleichszahlung für Rentner vorsah, war neben den Stimmen der DSU vor allem das Votum einiger seiner Fraktionskollegen dafür ausschlaggebend. Vergeblich hatte Lehmann-Grube in den Saal gerufen: "Sie fangen schon wieder an, Grund-Lebensmittel zu subventionieren", was einige Demokraten als Beleidigung empfanden.

Es blieb nicht seine einzige Niederlage. Auch im Streit um Stellenabbau und Öffnungszeiten in Kindertagesstätten wurde er überstimmt. Um so beachtenswerter, daß er dennoch "parteiübergreifenden Problemlösungen" gegenüber Fraktionsdisziplin den Vorzug gibt. "Wir müssen zu einem neuen Parteienselbstverständnis kommen. Einem, das der Sache dient", hatte Lehmann-Grube den Alternativen von Leipzig aus mit auf den Weg gegeben. Heide Rühle, Bundesgeschäftsführerin der Grünen, meinte danach fast traurig: "Schade, daß Sie nicht mehr Einfluß in der Bundespolitik haben..."

110959 Jul 1992