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Sie sehen hier eine historische Nachrichtenmeldung der früheren Nachrichtenagentur ddp/ADN (ab 2010 "dapd") vom 28.07.1996, 12:59 Uhr.

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Tarife/Korr
"Ein bißchen weniger sozialer Friede..." - Liberale haben Tarifautonomie im Visier - Debatte um Zukunft des Flächentarifs

--Von ddpADN-Korrespondent Norbert Freund--

Bonn (dts Nachrichtenagentur/ddpADN). FDP-Chef Wolfgang Gerhardt hat sich viel vorgenommen. Im Herbst wolle er eine "offene Diskussion" über den Flächentarifvertrag herbeiführen, kündigte der Chef der Liberalen jetzt in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" an. Bei Löhnen und Arbeitszeiten müsse es künftig "Bandbreiten" geben, innerhalb derer sich die einzelnen Betriebe bewegen könnten. Und weiter: "Wenn die Tarifparteien nicht zur Reform in der Lage sind, werde ich als FDP-Vorsitzender für eine gesetzliche Änderung eintreten."

Wieder einmal rütteln die Liberalen an einem Tabu der deutschen Nachkriegspolitik. Nach Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Sozialstaat ist jetzt also die Tarifautonomie dran. Und wie schon bei früherer Gelegenheit wird FDP-"General" Guido Westerwelle all jene, die gegen die Vorschläge der Liberalen sind, als "Strukturkonservative", "Besitzstandswahrer" und "Bedenkenträger" titulieren. Daß sich selbst der Bundeskanzler in der Vergangenheit wiederholt zum Flächentarifvertrag und zur Tarifautonomie bekannt hat, dürfte Westerwelle dabei wenig stören.

Auch diesmal sitzen die Verbündeten der Liberalen in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft. Bereits seit geraumer Zeit fordern der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), der Zentralverband der Elektrotechnik und Elektronikindustrie (ZVEI) und die Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) eine radikale "Individualisierung" der Tarifpolitik. Mit Blick auf England oder die USA halten diese Verbände den Flächentarif für überholt. Ihre Forderung: Weg mit Paragraph 77 Absatz 3 Betriebsverfassungsgesetz, der es den Firmen verbietet, mit Betriebsräten Tarifvereinbarungen zu treffen. Faktisch stellen diese Verbände damit auch die Existenz von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Frage.

Ganz so weit will der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Werner Stumpfe, wohl nicht gehen - würde er dadurch doch seine eigene berufliche Existenz gefährden. Stumpfe, der im Frühjahr die Gründung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung ins Gespräch gebracht hatte, propagiert eine grundlegende Reform des Flächentarifs. Für Arbeitszeiten soll es nur noch "Bandbreiten" im Gerhardt'schen Sinne geben, und auch von den im Flächentarif vereinbarten Löhnen solle auf betrieblicher Ebene abgewichen werden können, wenn dadurch Arbeitsplätze gesichert werden. Falls die IG Metall dazu nicht bereit sei, müsse "der Gesetzgeber handeln".

Vor einem solchen Eingriff der Legislative in die Tarifpolitik warnt jedoch der Hamburger Arbeitsrechtler Professor Ulrich Zachert. Er sieht darin einen "eindeutigen Verstoß gegen die grundgesetzlich geschützte Tarifautonomie". Und auch im Arbeitgeberlager teilt nicht jeder die Begeisterung über die tarifpolitischen Gedankenspiele des Wolfgang Gerhardt. Der künftige Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte am Wochenende, eine Umsetzung des FDP-Vorschlags würde "das Ende der Tarifautonomie" bedeuten. Diese sei bisher ein "Fundament des sozialen Friedens" gewesen, und dabei solle "es auch bleiben".

Ähnlich argumentiert der Arbeitsmarktexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Wolfgang Scheremet: "Wenn sich die Unternehmer vom Flächentarifvertrag verabschieden, müssen sie auch mehr Streiks in Kauf nehmen." Schließlich würden die Arbeitskämpfe dann in die Betriebe hineinverlagert. Werner Stumpfe indes scheint dieses Argument nicht sonderlich zu beeindrucken. Wie meinte er doch kürzlich: "Wenn es nicht anders geht, werden wir eben ein bißchen weniger sozialen Frieden haben."

nof/tba

281059 Jul 1996